Alt und immer älter

Vom Tag unserer Geburt an werden wir älter – bis an unser Lebensende. Also von Tag zu Tag. Älterwerden ist ein Prozess, der sich unaufhörlich vollzieht – manchmal sichtbar, spürbar, oft unmerklich. Erkennbar sind die Prozesse des Älterwerdens recht deutlich an unserem Körper – der wächst, verändert sich immerwährend, Zellen teilen, erneuern sich. Am deutlichsten wahrnehmbar an der Entwicklung vom brabbelnden Baby über das Kleinkind zum rebellischen Jugendlichen. Und dann wieder im hohen Alter, da sind die körperlichen Veränderungen augenscheinlich und eindeutig spürbar.

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Aber auch im seelisch-geistigen Bereich gibt es ein Älterwerden, ein Wachsen, Reifen, sich verändern. Kognitive Funktionen entwickeln sich, werden besser, lassen wieder nach, verändern sich. Unsere Meinungen, Einstellungen, unsere Sicht der Welt wandeln sich im Laufe der Jahre.

Und da ist unser individuelles und gesellschaftliches Bewertungssystem, das ganz klar feststellt: die frische Blüte ist gut und schön, das welke Blatt hässlich und unnütz.

Tatsache ist jedoch – es sind einfach unterschiedliche Daseinszustände, eine Momentaufnahme in einem unaufhörlichen Entwicklungsprozess. Nun sind die Stadien der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter soweit gut erforscht, ihnen wurde bislang viel Aufmerksamkeit zuteil. Es ist ja auch entzückend, wenn Babys krabbeln und ihre ersten Stehversuche machen. Wenn die ersten verständlichen Worte ausgespuckt werden. Gut untersucht ist, wie und wann Gerechtigkeitssinn oder Selbstbewusstsein sich entwickeln, wenn der erste Bart wächst, die Menstruation einsetzt, das Längenwachstum abgeschlossen ist usw. So nach dem Motto: vom Baby bis zum Erwachsenen gibt es unendlich viele Entwicklungs- und Lernprozesse, dann hat man seinen Status quo erreicht und auf dem bleibt man dann. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Bis man irgendwann zum geriatrischen Pflegefall wird und der körperlich-geistige Verfall einsetzt. Das ist dann ein neues Stadium der Rückentwicklung, das knapp vorm Ende des irdischen Daseins erreicht wird. Auf das sich interessanterweise niemand so recht freut oder es mit Entzücken betrachtet.

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So weit das alte Glaubensbild. Nun aber steigt die Lebenserwartung stetig und zugleich haben es Medizin und Fortschritt geschafft, Krankheit und Verletzung ganz gut in den Griff zu kriegen. Will heißen: wir werden immer älter und bleiben dabei im günstigen Fall fit und gesund. Und plötzlich klafft da eine weite Spanne zwischen dem aktiven 40jährigen und dem rüstigen 100jährigen. Und da soll nichts passieren? Keine Veränderung, keine Entwicklung, kein Lernen, Wachsen, Reifen, sich Wandeln?

Heute weiß man, dass wir praktisch immer im „Verändern“ sind. Es gibt viele Stadien und Entwicklungsschritte, die wir weiterhin durchlaufen, auch im hohen, höheren und höchstem Alter. Es gibt neue Aufgaben und Herausforderungen, denen wir uns stellen können oder aber die wir verweigern, verleugnen, verdrängen. Lebendig bleibt, wer sich dem Leben auch stellt. Wer die immer neuen Aufgaben des Lebens annimmt oder um mit Hermann Hesse zu sprechen:

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(aus dem Gedicht: Stufen)