Essay & so

Was ich Clemens Setz noch fragen wollte

Wie lange haben Sie an dem Buch geschrieben? Und gab es eine Vorlaufzeit? Manche Schriftsteller sagen ja, sie seien monate- oft jahrelang mit einem Stoff quasi schwanger gegangen, bis sie ihn endlich auf- (oder nieder-?) geschrieben haben? Hatten Sie also eine Vorlaufzeit oder haben Sie sich einfach hingesetzt und drauflos geschrieben? Und als Sie mit dem Schreiben begonnen haben, haben Sie da schon gewusst, wohin das Buch Sie führen wird? Gab es alle Personen, Handlungsstränge, Ereignisse, Wendungen, das Ende schon? Kannten Sie den Ausgang Ihres Buches von Anfang an? Und schließlich, als Sie mit dem Buch fertig waren, wie ging es Ihnen da?

Ich meine, wenn ich ein Buch nur lese, das mich sehr fasziniert, in dessen Geschichte ich eintauchen kann, dann mag ich es irgendwann gar nicht mehr aus der Hand legen, dann fange ich an, gegen Ende, die Seiten zwei- oder dreimal zu lesen, um nur ja nicht so schnell fertig zu werden. Ich mag mich nicht mehr trennen von diesem Buch. Von den Menschen, die ich kennen- und auf gewisse Art lieben oder zumindest schätzen gelernt habe. Es sind Freundschaften entstanden, Beziehungen. Insofern ist es immer ein Abschied, wenn ein Buch zu Ende gelesen ist.

Wie aber ergeht es nun jemandem, wenn er so ein Buch geschrieben hat? Über 1000 Seiten noch dazu! Wie sehr ist man dann mit seiner Geschichte verwoben, mit den Personen verbunden, wie wirklich ist das Buch dann schon geworden, wie viel Alltag, Realität? Und was heißt es dann, wenn man Abschied nehmen muss, es aus der Hand gibt und „fertig“ sagt? Leben die Personen dann weiter oder verschwinden sie allmählich wieder aus dem eigenen Leben? Kehren sie in anderer Gestalt in einem anderen Buch wieder? Gibt es Figuren, bei denen Sie froh sind, wenn Sie sie endlich los sind? Und andere, von denen Sie nicht lassen können? Verfolgen Sie die Figuren im Schlaf, träumen Sie manchmal von ihnen? Tauchen sie auch später noch auf in der Erinnerung wie alte Freunde? Oder haben Sie genug Distanz zu Ihren Figuren, sodass Sie stets wissen, dass es einfach nur erfundene Figuren sind?

Oder gibt es diese Menschen tatsächlich? Haben Sie einfach einen x-beliebigen Menschen als Muster genommen, nur entsprechend verfälscht oder ein paar mehrere quasi zusammengesetzt? Und lächeln heimlich in sich hinein, wenn Sie diesen Menschen begegnen – jaja, du bist meine Natalie, wenn du wüsstest, wie sehr du mich inspiriert hast, dich habe ich als Vorlage genommen für meine Hauptfigur!

Oder sind diese Figuren sowieso lauter Alter Egos, Teile der eigenen Persönlichkeit, die hier zu Wort kommen? Nicht nur einzelne winzige Details Ihres Ichs, die Sie ja gerne in Ihre Geschichten weben? Aber das führt jetzt vermutlich zu weit. Jetzt fängt es an allzu psychologisch zu werden und das mögen Sie eigentlich gar nicht so, zumindest nicht, was dieses Buch betrifft, wie Sie gemeint haben. Wir können nur die Oberfläche wahrnehmen, das dahinter sehen wir ohnehin nicht, so in etwa habe ich Ihre Worte in Erinnerung.

Na gut, und jetzt sind Sie mit ihrem Buch unterwegs, lesen da und dort. Was bedeutet das für Sie und Ihre Figuren? Lebt Natalie noch immer in Ihnen? Was sagt sie zum fertigen Buch? Und den Lesungen? Gibt es sie weiterhin noch? Oder sind Sie in Ihren Gedanken schon ganz woanders? Beim nächsten Buch? Reifen und wachsen schon die nächsten Personen zu einer Geschichte in ihrem Kopf? Haben Sie Natalie hinter sich gelassen? Hatten Sie Liebeskummer danach?

Ich habe das Buch – noch – nicht gelesen. Ich weiß also nicht, wie es mit Natalie nach den ersten Seiten weitergeht. Wie ihr Abenteuer endet. Und ob sie in irgendeiner Form weiterlebt. Leben wird. Leben darf. Ja, wenn mir jemand von anderen Menschen erzählt oder vorliest oder ich selber von ihnen lese, dann kann mein Hirn irgendwann keinen Unterschied machen, ob es sich um „echte“ Menschen handelt oder um fiktive. Ich höre oder lese die Geschichte eines oder mehrerer Menschen. Gibt es sie tatsächlich? So wie es die Menschen gibt, von denen man in der Zeitung liest, im Radio hört? Sind die Menschen echt, die man in Filmen sieht? Und Natalie nicht? Wie soll ich unterscheiden können?

Gut, ich werde das Buch lesen. Bei dieser Lesung jetzt habe ich erst mal ein anderes Buch gekauft, Ihr erstes. „Söhne und Planeten“. Es schien mir dünn genug, dass ich durchhalte. Und auch, dass ich es problemlos in der Hand halten kann beim Lesen. Die Geschichte von Natalie in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, brandneu erschienen, klingt spannend, ich habe jetzt schon das Gefühl ein bisschen von Natalie zu wissen, sie zu kennen. Und den Wunsch sie näher kennenzulernen und zu erfahren, wie es weitergeht mit ihr. Ich mag ihre kleinen Verrücktheiten, dieses bunte Innenleben, ihre Phantasie – und dabei haben Sie gerade mal 30 Minuten aus dem Buch vorgelesen.

Nicht einmal das, denn (geschätzt) einen großen Teil der Zeit haben Sie irgendwelche Dinge erzählt. So beiläufig und nebensächlich, einfach drauflosgeplaudert, was Ihnen anscheinend gerade so in den Sinn gekommen ist. Über Ihre Vorlieben, Eigenheiten, über Bücher, die Sie gelesen haben (und das muss eine ganze Menge sein), über winzige kleine Details aus ihrem Leben und Ihrer Gedankenwelt. Beiläufig, kombiniert mit zahlreichen Handbewegungen, durchs Haar streichen, Gesten aller Art, einfach drauflos geplaudert… und es war angenehm zuzuhören, den Worten zu folgen ohne große Mühe, ohne Langeweile, immer überraschend, unerwartet, trotzdem leicht… selbst banalste Details können zu Literatur werden, habe ich festgestellt.

Wie auch immer, ich habe das Buch noch nicht gekauft. Über 1000 Seiten! Das kann man nicht lange in der Hand halten. Wenn man es in die Tasche steckt, ist es schwer, das überlegt man sich dreimal, ob man es mitnimmt. Und natürlich auch die Frage: Schaffe ich das? Halte ich so lange durch? Wo ich doch noch dazu derzeit auf Kurzgeschichten und Erzählungen eingeschossen bin. Fein säuberlich in kleine überschaubare Portionen verpackt. Und dann ein 1000 Seiten Schmöker?

Aber, wie gesagt, ich bin neugierig geworden. Ich fange mit Ihrem ersten Buch an. Kann sein, dass es mich so gefangen nimmt, dass ich mehr brauche. Mehr Stoff. Dass ein weiteres Buch von Ihnen herhalten muss. Und noch eines. Dass ich gar nicht genug kriegen kann. Und dann, ja, dann, ist „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ fällig. Denn dann kann das Buch gar nicht dick genug sein. Dann werde ich mir wünschen, dass es niemals enden möge. Und ich werde sein Gewicht ertragen und die vom vielen Blättern und in die Tasche stecken und wieder herausziehen und auf dreckige Tische legen längst verschnuddelten Seiten, ich werde es lieben. Und dann werde ich endlich erfahren, wie es mit Natalie weitergeht.