Briefe an Selma

Selma Meerbaum-Eisinger – wer kennt wohl dieses Mädchen? Diese Frau?

Eine begnadete Dichterin, Lyrikerin, geboren 1924 in Czernowitz, gestorben 1942 in Michailowka. 57 Gedichte hat sie hinterlassen – für mehr wurde ihr keine Zeit gegönnt. Mit 18 Jahren ist sie im Arbeitslager gestorben, „irgendwo verscharrt“, wie Jürgen Serke schreibt.

Im Oktober 1985 habe ich als junge Studentin in Graz ihr Buch gekauft (oder vielleicht  geschenkt bekommen) – Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Serke. Fischer Taschenbuch Verlag, 1984.

Und seither trage ich diesen Schatz mit mir herum. Zig Wohnungswechsel, Räumarbeiten, Ausmistaktionen hat dieses Buch überlebt… es ist mir vom ersten Moment an ans und ins Herz gewachsen.

Erstmal die Geschichte von Selma. Diesem lebenslustigen Mädchen, das allen Grausamkeiten getrotzt hat. Das unter schlimmsten Bedingungen noch Gedichte verfasst, von der Liebe und einem Leben geträumt hat. Einem normalen, einfachen Leben.

Es hat mir schier das Herz zerrissen, als ich von ihren Lebensumständen gelesen habe… und das tut es heute noch.

Und dann ihre Gedichte…

Aus: Poem (7.7.1941)

… Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein….

 

Vor 100 Jahren wurde Selma geboren. Das ist lange her. Doch dieses Mädchen hat mich mit seinen Worten damals wie heute erreicht, berührt meine Seele, lässt mein Herz weinen. Bluten. Und schreien.

Sie kann es nicht mehr, ihre Gedichte (und ihre Geschichte) erzählen, einem Publikum vortragen… aber ich kann es! Ich werde Selma in diesem Jahr mitnehmen auf meine literarische Reise. Zu meinen Lesungen. In meine Welt, zu meinen Freund*innen und Weggefährt*innen…

Ich bitte den Verlag, der heute noch ihr Buch herausgibt: Druckt ihr Buch, bringt es in die Buchhandlungen, in die Öffentlichkeit. Gebt diesem Mädchen, was ihr gebührt.

Mein Projekt hier: Ich möchte jeden Monat einen Brief schreiben, einen Brief an Selma. Ich kenne ihre Geschichte nicht gut, ich bin weder Literatur- noch Geschichtsexpertin. Ich bin nur eine Frau, eine Autorin und selbst Lyrikerin, die sich dieser großen Dichterin annähern möchte. Ich möchte sie kennenlernen und von ihr erzählen. Aus meinem ganz persönlichen Zugang heraus. Ohne wissenschaftliche Ansprüche. Ohne überhaupt jegliche Ansprüche. Ich möchte einfach erzählen, wie es mir mit dieser Annäherung geht. Ich möchte dieses Mädchen, diese wunderbare Lyrikerin besser kennenlernen… und nehme gerne all jene mit auf diese Reise, die mir und ihr folgen mögen.

Es folgt der erste Brief beizeiten.