ihr film

Autorenhausverlag, Tieger Blog, Juli 2018

wenn sie den film noch einmal zurückspulen könnte, dann wüsste sie, wo sie stoppen würde. dort nämlich, wo er sie zum ersten mal geschlagen hatte. auch wenn sie seine schläge seither ungezählte male ertragen, ja sich beinahe schon daran gewöhnt hatte und wusste, wie sie ihre verletzungen geschickt verbergen konnte – sie konnte sich längst nicht mehr an jede einzelne situation erinnern. dieses erste mal jedoch hatte sie noch genau vor augen. bis ins letzte detail. wie einen film, den sie immer wieder neu einlegen und abspulen konnte – der vorspann zu ihrem leben. das gemeinsame abendessen. sie hatte ihr weißes sommerkleid getragen. das, das er ihr am tag zuvor gekauft hatte. „steht dir gut“, hatte er gemeint. und sie hatte sich gefreut. es hatte hühnchen gegeben an diesem abend. hühnchen mit reis und salat. tomatensalat mit viel zwiebel. er hatte zwei bier dazu getrunken. und danach der kuchen. sie hatte kuchen gebacken. weil es ihr geburtstag war. der erste, den sie mit ihm feierte. wie der streit entstanden war. wegen einer kleinigkeit. er wollte nicht mehr weggehen. sie hatte gebettelt. „es ist doch mein geburtstag, karl und eva warten sicher schon in der bar“. aber er wollte nicht. er wollte daheim bleiben. allein mit ihr. sie wäre so gerne noch ausgegangen, hätte ihr hübsches neues kleid gezeigt. sie waren immer lauter geworden. bis sie schließlich aufgesprungen war und das zimmer verlassen wollte. „ich halte es hier nicht mehr aus“, hatte sie noch geschrien. da war er schon neben ihr gewesen, hatte sie am arm gepackt und ihr ins gesicht geschlagen. mit voller wucht. sie war kurz getaumelt. wäre fast gefallen, wenn er sie nicht am arm gehalten hätte. der schock. sie war regungslos stehen geblieben. im ersten moment hatte sie gar nichts gespürt. nur entsetzen. blankes entsetzen. ja, an dieser stelle – spätestens – würde sie abstoppen. den film herausnehmen und einen anderen einlegen. einen, in dem sie sich wortlos wegdrehte und bei der tür hinausging. in ein anderes leben ging. ihn zurücklassend. ihn und den noch nicht einmal angeschnittenen geburtstagskuchen. ohne sich umzudrehen. sie hätte einen anderen mann kennengelernt. wäre mit einem anderen mann zusammengezogen. der hätte sie nicht geschlagen. sie hätte endlich ein kind gekriegt. oder zwei. wie sie es sich immer gewünscht hatte. der arzt hätte ihr nicht gesagt, dass sie keine kinder bekommen könnte. da wären keine verwachsungen gewesen in ihrem unterleib. sie wäre glücklich gewesen. das wäre eindeutig der besser film. egal, wo sie hingegangen wäre. damals vor 14 jahren. aber das leben war nun mal kein großes kino. man kann nicht einfach den film auswechseln, wenn er einem nicht gefällt. deshalb war sie geblieben. in ihrem film.