der letzte tag

Veröffentlicht: Driesch Nr. 11/2012

sie fragte sich im nachhinein oft, ob sie etwas anders gemacht hätte. wenn sie gewusst hätte, dass das der letzte tag ihres lebens ist. dieses lebens. und was sie anders gemacht hätte. aber wie so oft lassen sich derartige fragen nicht wirklich beantworten. egal wie oft sie sich das fragte. der tag hatte begonnen wie jeder andere tag auch. nichts hatte darauf hingedeutet, dass dies der letzte tag sein sollte. das an diesem tag ihr leben enden würde. dieses leben. und was danach kam, war nicht einmal ansatzweise vorstellbar, denkbar. darüber hatte sie sich nie, wirklich nie in ihrem bisherigen leben den kopf zerbrochen. wäre es anders gewesen, hätte sie öfter darüber nachgedacht? sie hatte bis heute keine antwort darauf gefunden. der tag, wie gesagt, hatte ganz normal begonnen. wie jeder tag. eine endlose reihe von tagen, die einander ähnelten. ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre…

aufstehen um halb sechs. ins bad schlurfen. duschen, waschen, cremen, schminken… das übliche programm. die kinder wecken. in die küche. frühstück machen. den tisch decken. gelegentlich nach den kindern rufen, die meist zu spät kommen. der mann, der bei der tür reinschaut. „alles ok? bin schon weg. wird etwas später heute, wart nicht auf mich“. die tür fällt ins schloss. sie hat ihn kaum wahrgenommen. wie jeden tag eben. er frühstückt nie. die kinder kommen, maulen. „ich mag nichts essen. kann ich heute mein frühstück einpacken?“ immer das gleiche. „nein! hinsetzen. frühstück ist wichtig. ihr braucht etwas im magen!“ „hab keinen hunger. mir ist schlecht….“. kannte sie schon. die kinder schlingen ein brot runter, schütten saft nach, rennen bei der tür raus. „tschüss mama“. sie seufzt. tat sie das jeden tag? vermutlich. sie macht sich fertig. verlässt das haus. fährt ins büro. die kolleginnen sind meist schon alle da. sie kommt fast immer als letzte. sie arbeitet bis mittags. wie jeden tag. jeden wochentag. nichts besonderes. der chef grantig. wie immer. wie immer hat sie zu tun, um ihre arbeit abzuschließen für heute. stets kommt noch was neues nach. immer wichtig. immer sofort zu erledigen. immer hat sie zu tun, dass sie rechtzeitig wegkommt. sie geht. sie flüchtet fast. fast immer mit schlechtem gewissen. die kolleginnen arbeiten ganztags. sie ist die einzige, die mittags schon geht. „gut hat sie´s“, sagen die kolleginnen. und manchmal murren sie auch „jetzt muß ich das selber machen, hättest nicht du noch…?“ deshalb hat sie fast immer ein schlechtes gewissen. sie besorgt rasch lebenmittel, geht noch in die drogerie, sie hat nach büroende immer etwas zu besorgen. der familieneinkauf lastet auf ihr. den macht sie allein. wie überhaupt den ganzen haushalt. das ist ihr arbeitsgebiet. ihr mann trägt den müll raus. und mäht den rasen. um´s auto kümmert er sich auch. der haushalt ist ihre angelegenheit. sie schließt die tür auf, trägt die einkäufe in die küche. die säcke wiegen schwer. sie verstaut alles, setzt sich kurz hin. ein blick auf die uhr. bis jetzt ist der tag gelaufen wie allen anderen zuvor. noch nichts ungewöhnliches. alles wie gehabt. sie geht in den keller, packt schnell mal die waschmaschine voll, wirft sie an. dann wieder nach oben. im vorbeigehen nimmt sie das sakko mit, das ihr mann gestern auf´s treppengeländer gehängt hat. in geübter weise greift sie in beide seitentaschen, fischt alles heraus. meist taschentücher, zusammengeknüllte notizzettel, manchmal einen stift, einmal sogar ein handy. nicht seines. und einmal ein taschentuch mit speiseresten darin. „das buffet war widerlich“, hatte er ihr später erklärt. diesmal zieht sie einen strumpf heraus. einen langen schwarzen nylonstrumpf. sie wundert sich kurz, will ihn zu der übrigen wäsche legen. da macht es in ihrem hirn „klack“. und die frage tut sich auf: was ist das? das ist nicht ihr strumpf! das ist aber eindeutig ein damenstrumpf! in der ferne ziehen wolken heran. irgendetwas dunkles hängt drohend in der luft. zieht ihr mann jetzt damenwäsche an? heimlich? sie hat von solchen sachen gelesen. oder wem gehört der strumpf? wie kommt ein damenstrumpf in die sakkotasche ihres mannes? eines sakkos, das er nur zur arbeit trägt? die gedanken poltern durch ihren kopf. irgendetwas ist anders. irgendetwas passt nicht. das hier ist nicht das gewohnte alltagseinerlei, das sie so gut kannte. ihr herz klopft schneller. schneller als normalerweise. sie steigt die treppen nach oben. sie muß sich tummeln, das mittagessen vorbereiten, die kinder werden bald kommen. sie hat jetzt keine zeit über den damenstrumpf nachzudenken. sie geht in die küche, holt das gemüse aus dem kühlschrank, fängt an zu putzen und schälen. noch ist alles wie immer. und doch ist irgendetwas anders. das spürt sie. sie putzt schneller. das messer fällt ihr aus der hand. sie bückt sich. beim aufheben schneidet sie sich in den finger. ach, wie ungeschickt, sie ist unkonzentriert. fahrig. der damenstrumpf…?

die türklingel riss sie aus ihren gedanken. sie fuhr herum. wer um diese zeit…? hatte sie einen termin übersehen? sie erwartete niemanden. um diese zeit war sie normalerweise allein zu hause. sie hatte für heute nichts vereinbart. keinen handwerker. keine freundin. ein vertreter vielleicht? sie ging zur tür. irgendwie fühlte sie sich schwammig. irritiert. das hier ging nicht seinen gewohnten gang. plötzlich schien alles aus dem ruder zu laufen. sie fühlte sich wie in einem film, den sie nicht kannte. sie öffnete die tür. eine frau stand davor. sie sah leicht schwanger aus, die frau. oder täuschte das? „hallo, ich bin ines schaber“. die frau machte eine pause, musterte sie kurz, schien auf etwas zu warten. „ja? bitte? was kann ich für sie tun?“ sie kannte die frau nicht. sie wusste nicht, was sie tun sollte. die tür zumachen, sie hereinbitten? „ich würde gerne mit ihnen sprechen, darf ich reinkommen?“ „worum geht es denn? ist etwas mit den kindern? oder meinem mann? ist etwas passiert?“ sie spürte wie angst in ihr hochkroch. das gefiel ihr nicht. sie hatte kein gutes gefühl. „bitte, es ist wichtig und es ist privat. ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn wir hier vor der haustür darüber sprechen“. sie öffnete die tür, wortlos, ließ die frau eintreten, schloß die tür hinter ihr. sie führte sie ins wohnzimmer. „darf ich ihnen etwas anbieten? ein getränk?“ es war wie ein reflex, immer höflich, jedem vertreter bot sie ein glas wasser an. „nein, danke. ich möchte nichts trinken. ich werde auch nicht lange bleiben. ich möchte nur kurz mit ihnen sprechen.“  „ja, gut. worüber wollen….“ „ich bin die geliebte ihres mannes. seit circa drei jahren. in fünf monaten kommt unser erstes kind auf die welt. ihr mann und ich, nun ja, wir gehören zusammen. wir werden zusammenziehen, ein haus haben wir schon gefunden. ich denke, dass sie das endlich wissen sollten…“

das war der moment, wo ihr leben zu ende ging. schlagartig. ihr kopf schaltete auf standby um. sie schaute, sie hörte zu, sie nickte, aber das ko war total. endgültig. hundertprozentig. in dieser sekunde war ihr leben vorbei. das wusste sie genau. sie hörte die frau weiterreden. der film lief. sie konnte nicht mehr aussteigen. abstoppen. ihr leben war zu ende und nun war sie in einem film gefangen, der ohne ihr zutun einfach weiterlief. sie konnte sich kaum noch erinnern, was dann geschah. nachdem ihr leben endete. eine große stille tat sich auf. eine leere. die frau ging. die kinder. anruf  bei der mutter. die kinder zur mutter. das wusste sie noch. wie fremdgesteuert hatte sie das notwendigste in die wege geleitet. dann wein. telefonate. koffer packen. ihr mann. zusammengesunken. schuldbewusst. erklärungen. entschuldigungen. er wollte sie in den arm nehmen. trösten. er werde gehen. sie könne im haus bleiben. sie soll bleiben. er werde noch heute gehen, wenn sie das möchte. vermutlich hatte sie genickt. alles, was passierte, passierte in diesem film, den sie nicht kannte. wo sie nicht wusste, was sie zu sagen oder zu tun hatte. sie tut einfach, was sie sonst immer getan hat. sie steht in der früh auf, geht ins bad, macht sich fertig. ruft die kinder in die küche, „hab keine hunger“… „frühstück ist wichtig“… „tschüs mama. alles ok, mama?“ sie geht zur arbeit. sie geht von der arbeit nach hause. alles wie immer eigentlich. und doch… eine freundin schaut gelegentlich vorbei, ihr vater ebenso. öfter als sie es von ihrem früheren leben kennt. gespräche. ratschläge. in der nacht liegt sie wach. sie denkt nicht. sie fühlt nicht. nichts. sie wälzt sich hin und her. schlafen kann sie nicht. das ist in diesem film nicht vorgesehen, anscheinend. sie tut, was sie gewohnt ist zu tun. aber mit ihrem früheren leben hat es nichts mehr zu tun. sie tut bloss so als ob. als ob es dieses frühere leben noch gebe. ihr mann ist nicht mehr da. anfangs hat er versucht, sie anzurufen. „wir müssen verschiedene dinge klären. wann kann ich die kinder holen….“ sie nimmt alles teilnahmslos zur kenntnis. nur reden mag sie nicht mit ihm. vorüber auch? er gehört zu ihrem früheren leben. nicht zu dem film, der jetzt läuft. da ist er nur statist. nebensächlich. unwichtig. ein störfaktor. wie soll es weitergehen? sie weiß es nicht. die kinder sind da. ihre eltern. die nachbarin schaut vorbei. sie geht ins büro. das haus. die einkäufe. weniger als in ihrem früheren leben.  es ähnelt ihrem früheren leben., aber es ist nicht ihr leben. sie ist tot. sie fühlt sich zumindest so. sie kann nicht schlafen. sie hat keinen hunger. sie isst kaum etwas. nur das nötigste. sie lacht nicht. sie weint nicht. sie robotert durch ein leben, das es einmal gab. sie weiß nicht wirklich, was sie tut.

eines tages ruft gabi an. eine ehemalige schulfreundin. „hallo, wie geht’s? kennst du mich noch? stell dir vor, ich bin umgezogen, ich wohne wieder in der stadt. hab zufällig deine alte nummer ausgegraben. und dachte, ich probier es mal: hab dich gleich gefunden. alles unverändert bei dir, sogar noch die gleiche nummer. nach so vielen jahren! du wohnst also noch in diesem tollen alten haus? mit den traumhaften rosen davor?“ sie dachte angestrengt nach. gabi? gabi? wer? in ihrem hirn rattern die gedanken durcheinander. ungewohnte anstrengung. sie erinnert sich dunkel. gabi, natürlich. ihre liebste freundin. früher mal. bis sie dann vor vielen – wie vielen? –  jahren weggezogen war, zu ihrer großen liebe, wie hieß er doch gleich? nach…, wohin war sie doch gleich gezogen…? sie hatten sich aus den augen verloren. gelegentlich noch ein anruf, ein brief, dann hatte es plötzlich geheissen: unter dieser nummer keiner ereichbar. gabi war verschwunden. jahre ist das schon her. das war in einem leben vor ihrem leben. dem letzten leben. noch davor. sie war noch ziemlich jung gewesen. damals. jung und fröhlich und faltenfrei. sie hatte gesungen, in einer band. „rockababe“ hatten sie sich genannt. gabi hatte schlagzeug gespielt. als gabi weggegangen war, hatten sie keine passende schlagzeugerin mehr gefunden. und so wenig zeit. kinder hier und kinder da. haushalt, ehemänner, jobs, termine, einkaufsfahrten, besorgungen, irgendwann hatten sie keine zeit mehr gefunden zum gemeinsam proben und auftreten. die band hatte sich zerschlagen. aufgelöst. langsam. nicht so abrupt wie ihr leben dann geendet hatte. lange her. sehr lange. sie hatte schon ewig nicht mehr daran gedacht. nicht in diesem zustand. und nicht im leben davor. in ihrem ehefrauleben. gabi war vorbeigekommen. sie hatte einen korb voller delikatessen mitgebracht. sie machten einen wein auf. und noch einen. und noch einen. sie redeten. die ganze nacht durch. gabi futterte den halben delikatessenkorb leer. sie weinte. gabi weinte. sie tranken wein. viel wein. und da löste sich der klumpen in ihrem kopf. der ihre gedanken verstopft, ihre gefühle versperrt hatte. etwas löste sich in ihr. die tränen fingen an zu fliessen. sie schluchzte. sie schimpfte, sie fluchte, sie jammerte. gabi schimpfte mit. fluchte mit. schluchzte mit. jammerte mit. gabi kannte das. sie hatte ähnliches erlebt. „das geht man durch. man überlebt. und das beste: was danach kommt ist meist um klassen besser als das was war. ehrlich. kannst mir glauben“. sie trank noch mehr wein. ihr kopf war benommen, aber in ihr ruschte es. gewaltig. als wäre plötzlich alles in bewegung geraten. was da gestockt war. als würde sich leben regen. neues leben. natürlich, warum auch nicht. der schweinehund. sollte sie seinetwegen leiden? seinetwegen aufhören zu leben, zu lieben, glücklich zu sein? „das leben geht weiter“, meinte gabi, „prost, und wenn du wieder nüchtern bist, wirst du sehen, dass du verdammt nochmal, richtig froh sein kannst, das du diesen schleimigen faden saftsack endlich losgeworden bist. der hat nie viel getaugt. meine meinung. aber auf dem ohr warst du ja taub. das wolltest du nicht hören“. gabi blieb über nacht. das heißt über tag. sie torkelte ins schlafzimmer, schrieb noch  einen kurzen zettel für ihre kinder: „bitte nicht stören, muss schlafen!“ und fiel ins bett.

als sie aufwachte dämmerte der morgen. sie sah auf die uhr. sie hatte einen ganzen tag und eine nacht durchgeschlafen . wie ein stein. sie fühlte sich gut. leicht. nur in ihrem magen grummelte es. durst. sie hatte riesigen durst. aber da war noch etwas: das grummeln in ihrem magen verstärkte sich. und sie bemerkte etwas, was sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. sie hatte hunger. bärenhunger.